Interview mit Matthias Widmer – Berufliche Inklusion und Teilhabe

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von Daniel Dietrich

Inhaber und Geschäftsführer der Inklusis GmbH mit langjähriger Erfahrung auf dem Gebiet der Inklusion.

🔗 Zur Person von Matthias Widmer, FHNW

Einleitung & persönliche Vorstellung

Können Sie sich bitte kurz vorstellen? Wer sind Sie und welche beruflichen Stationen haben Sie geprägt? Was hat Ihr Interesse am Thema Inklusion und berufliche Teilhabe geweckt? Welche Schwerpunkte setzen Sie in Ihrer Forschung und Arbeit an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW?

Matthias Widmer von der FHNW im Interview mit Inklusis und Daniel Dietrich.

Ich habe meine berufliche Karriere im Prototypenbau gestartet – dieses experimentelle Arbeiten prägt mich bis heute. Nach einer Tätigkeit in einem Wohnheim bin ich seit über zehn Jahren an der Fachhochschule Nordwestschweiz tätig, mit Fokus auf Forschung und Organisationsentwicklung. Seit fünf Jahren beschäftige ich mich intensiver mit dem Thema Wirkungsforschung. Im Feld der Behindertenhilfe kommt man an Inklusion und Teilhabe nicht vorbei – es ist eine Pflicht, sich in diesem Feld damit auseinanderzusetzen.

Erfolgsfaktoren und Herausforderungen

Welche Rahmenbedingungen müssen gegeben sein, damit Inklusion im Arbeitsbereich gelingt?

In den letzten Jahrzehnten wurden Menschen mit und ohne Behinderungen stark voneinander getrennt – das schafft eine grosse Distanz. Inklusion lässt sich deshalb nicht von heute auf Morgen erzeugen, es ist ein Weg mit Etappen. Zunächst braucht es unverbindliche Begegnungen, etwa in einer gemeinsamen Kantine oder in geteilten Pausenräumen. So können gegenseitige Vorbehalte abgebaut werden. Im nächsten Schritt können soziale Institutionen Dienstleistungen für Firmen anbieten. Erst dann folgt die echte Kooperation. Beide Seiten müssen sich auf diesen Weg begeben – schrittweise. Wichtig ist: Menschen mit Unterstützungsbedarf sollen selbst entscheiden dürfen, ob und wie rasch sie diesen Weg gehen möchten. Inklusion funktioniert nicht durch Druck. Und: Nicht jede Branche ist gleich gut dafür geeignet.

Was sind Ihrer Meinung nach die grössten Hindernisse für Menschen mit Beeinträchtigungen beim Zugang zum ersten Arbeitsmarkt?

Ein Hindernis ist der Anspruch, sofort perfekte Projekte mit durchdachten Konzepten umzusetzen. Stattdessen sollten wir mehr Lernräume und Experimente mit offenem Ausgang zulassen. Zudem fehlt es an gemeinsamen, geteilten Orten für unverbindliche Begegnungen und Erfahrungsaufbau. Der schnelle Ruf nach Inklusion kann überfordern, wenn die Voraussetzungen nicht stimmen. Und es besteht die Gefahr, dass wir Menschen zu etwas drängen, statt ihnen eine echte Wahl zu lassen.

Welche Rolle spielen soziale Institutionen bei der beruflichen Inklusion? Können sie auch Barrieren darstellen?

Ja, die herkömmliche Institution schafft oft noch Barrieren – mit ihren Sonderstrukturen, die wenig Kontakt zur Gesellschaft bieten. Das Arbeitsangebot ist häufig wenig vielfältig. Dabei hätten Institutionen die Möglichkeit, den Hebel Richtung Integration und Inklusion umzulegen. Laufbahnplanung, Wahlfreiheit, Karrieremöglichkeiten – all das fehlt häufig noch. Positive Beispiele, wie die aufkommende Peer-Arbeit oder das Nutzen gemeinsamer Arbeitsorte zeigen das wahre Potenzial der Menschen oft besser als in herkömmlichen geschützten Arbeitsangeboten. Vielleicht geht es weniger um «Inklusion in den Arbeitsmarkt» als um die Frage, wie Menschen als gleichwertiger Teil der Gesellschaft anerkannt und sichtbar werden können.

Was können Unternehmen konkret tun, um ein inklusives Arbeitsumfeld zu schaffen?

Es beginnt mit einfachen Begegnungen – etwa über eine gemeinsame Kantine. Firmen können soziale Institutionen ansprechen und gemeinsam niederschwellige Formen der Zusammenarbeit entwickeln. Man muss nicht gleich alles umstellen: Ein einzelner Mitarbeitender oder eine Arbeitsgruppe in einem abgetrennten Bereich kann ein guter Anfang sein. Wichtig ist: Es beginnt im Kopf.

Praxisbeispiele und innovative Ansätze

Haben Sie ein Praxisbeispiel oder Inklusionsprojekt, das Sie besonders inspiriert hat?

Welche innovativen Ansätze sehen Sie aktuell als vielversprechend für die berufliche Inklusion?

Die «freie und informierte Wahl», wie sie vom Capability-Ansatz vorgeschlagen wird, sollte der Inklusion vorgelagert sein. Menschen dürfen sich auch gegen Inklusion entscheiden. Soziale Organisationen sollten ein vielfältiges Angebot anbieten – von der geschützten Sonderlösung bis zur vollen Inklusion. Selbstbestimmung bekommt damit eine neue Bedeutung. Hilfebedarf richtet sich unter dieser Vorgabe danach, wie gut Menschen Entscheidungen treffen können. Gleichzeitig kann zu viel Hilfe Selbsthilfe und gegenseitige Hilfe hemmen – Empowerment braucht Raum und manchmal auch die Abwesenheit von Begleitpersonen.

Zukunft der Inklusion im Arbeitsmarkt

Welche gesellschaftlichen oder politischen Entwicklungen beeinflussen die Inklusion aktuell am stärksten? 👉 Einfluss von Ausgleichsabgaben

  • UN-Behindertenrechtskonvention (seit 2014 in der Schweiz) als Treiber
  • SEBE im Kanton Zürich – «Selbstbestimmt entscheiden» (2022) als Treiber
  • Debatten um Inklusion an Regelschulen als Hemmnis
  • Rechtskonservative & libertäre Strömungen (Leistungsprinzip, „Anti-woke“) als Hemmnis

Wie schätzen Sie die Zukunft der Inklusion im Arbeitsmarkt ein?

Es wird noch dauern – aber der Prozess ist in Bewegung. Es wurde Fahrt aufgenommen.

Persönlicher Ausblick & Schlusswort

Gibt es eine zentrale Botschaft an Unternehmen und Entscheidungsträger?

  • Kontakt zu sozialen Organisationen aufnehmen und Möglichkeiten ausloten
  • Gute Beispiele anschauen – Inspiration suchen
  • Klein starten: Es muss nicht gleich ein Grossprojekt sein
  • Gemeinsam Sicherheitsnetze schaffen – niemand muss es allein machen

Was motiviert Sie persönlich, sich für berufliche Inklusion einzusetzen?

Es ist meiner Meinung nach eine menschliche Pflicht. Jeder Mensch hat das Recht, Teil der Gesellschaft zu sein. Ausgrenzung und Aussortieren darf keine Option sein – gerade, wenn man sich selbst in die Lage anderer versetzt.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Inklusion?

  • Mehr Mut zum Ausprobieren
  • Weniger Papier und komplizierte Konzepte
  • Nicht mit dem Schwierigsten beginnen – einfach loslegen

Inhalt

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