Auf der Suche nach mehr Menschlichkeit

Daniel Dietrich steht vor dem Werkheim Uster an der Friedhofstrasse und lässt sich vom Fotografen in die richtige Position dirigieren, als ein Klient – wie die Bewohner und Mitarbeiter mit Behinde­rung im Fachjargon heissen – auf ihn zugeht und ihm lächelnd die Hand gibt. Er bleibt eine Weile so stehen und schaut Dietrich mit freundlichem Blick an, bevor er wortlos weitergeht. «Das ist die Art von Menschlichkeit, die ich schätze», meint Dietrich. Der SO-Jährige leitet seit 2008 die UBS-Filiale in Uster und wechselt im Frühjahr zum Werkheim Uster als Fundraiser – also als Spendensammler.

Den Finanzen bleibe er treu, die hätten ihn schon immer interessiert, erklärt Dietrich, der zum Banker-Beruf kam wie die Jungfrau zum Kind. «Ich hatte damals mit 16 Jahren keinen Plan, was ich machen sollte», worauf ihm sein Vater empfahl, eine Banklehre zu beginnen. Gesagt, getan. Weil der Beruf Dietrich so fasziniert hatte, hängte er die Berufsmaturität und die Fachhochschule gleich an und absolvierte später noch den Master of Finance.

Seine Lehre machte Dietrich, der im Zürcher Unterland aufgewachsen ist, bei der Zürcher Kantonalbank in Eglisau. Später wechselte er zur Schweizerischen Bankgesellschaft (SBG, heute UBS) in Wetzikon. Nach der Fusion mit dem Bankverein ging er nach Zürich und betreute Grosshandels- sowie Tochtergesellschaften von internationalen Konzernen. Später, in Rapperswil, arbeitete Dietrich als Leiter KMU-Geschäfte, bevor er 2008 als Bankfilialleiter nach Uster kam. Insgesamt arbeitete Dietrich während über 20 Jahren für die SBG und später für die UBS. Jetzt startet der Wahl-Ustermer nochmals komplett neu und wechselt in den Sozialbereich. «Diese soziale Ader wurde mir wohl schon als Kind mitgegeben», meint Dietrich. Den Ärmel so richtig reingenommen habe es ihm aber, als er beim Projekt «Seitenwechsel» mitgewirkt habe, einem Programm, das Führungskräfte den Einblick in soziale Institutionen erlaubt. Dietrich verbrachte eine Woche in der Stiftung Balm, einem Behindertenheim in Rapperswil-Jona. «Ich durfte in alle Bereiche reinschauen. Das hat mich sehr geprägt.» Er habe gelernt, dass Zahlen und Geld nicht das Wichtigste seien auf der Welt. Diese Einsicht ist nicht zuletzt wichtig, weil der Wechsel zum Werkheim Uster für Dietrich auch lohntechnisch spürbar sein wird. «Das war auch einer der Gründe, weshalb ich anfangs etwas gezögert hatte», gibt Dietrich zu. Doch er hofft, mit seiner neuen Tätigkeit auf eine andere Art Erfüllung zu finden. Es sei nicht so, dass er seinen Job nicht möge. Doch habe sich die Finanzbranche in den vergangenen Jahren stark verändert – nicht immer zum Positiven. «Wenn in der Welt etwas pas,sierte im Zusammenhang mit der UBS oder mit dem Bankenwesen, dann war ich oft mit negativen Äusserungen konfrontiert. Die Entwicklungen in der Bankenszene haben den Druck auf jeden Mitarbeiter erhöht.» Dieser Spagat habe ihm mit der Zeit Mühe bereitet. Davon, dass der Wechsel eine Art Notbremse ist, will Dietrich aber nichts wissen. «Heute geht es mir gut. Aber ich will mir nie selber vorwerfen müssen, dass ich es nicht versucht habe. Und jetzt, mit 50 Jahren, ist genau der richtige Zeitpunkt.» In seinem neuen Job wird sich Dietrich auf die Suche nach potenziellen Spendern für das Werkheim machen. Zwei grössere Bauprojekte seien geplant, die teilweise über Spenden finanziert werden sollen, sagt Dietrich. Er ist zuversichtlich, was seine Zukunft im Werkheim Uster anbelangt. «Ich kann von meinen zahlreichen Kontakten profitieren.» Er sei gut vernetzt. Dafür hat er aber auch einiges getan: «Es gibt Leute, die, wenn sie an einem neuen Ort sind, in eine Ecke stehen und darauf warten, dass sie angesprochen werden. Ich hingegen gehe auf die Leute zu.» Er habe sich sogar einen Sport daraus gemacht, an Anlässen auf Leute zuzugehen, die er noch nicht gekannt habe, und sie in ein Gespräch zu verwickeln. «Danach machte ich mir Notizen zur Person, etwa den Namen und die angeschnittenen Gesprächsthemen.» Vor dem nächsten Anlass habe er die Notizen jeweils wieder hervorgenommen und nochmals durchgelesen. «Ich musste feststellen, dass die Leute es nun mal schätzen, wenn man ihren Namen beim zweiten Treffen noch kennt», erklärt Dietrich sein ungewöhnliches Vorgehen. Heute mache er das aber nicht mehr. «Uster ist zwar die drittgrösste Stadt im Kanton, bleibt aber ein Dorf. Man kennt sich – und eben auch mich. Ich bin in Uster angekommen. Zum ersten Mal habe ich ein echtes Heimatgefühl, das ich vorher nicht kannte.» Ein Ziel hat sich Dietrich nicht gesetzt. «Ich möchte mich zuerst integrieren und die neuen Leute kennenlernen.» Von seinen verschiedenen Ämtern, die mit seiner bisherigen Funktion eng verbunden waren, will sich Dietrich dann zurückziehen: «Ich konzentriere mich voll auf meine neue Aufgabe.»

Monica Cadosch

© inklusis.ch 2024 | designed with ❤️‍🔥 by mcu.swiss